KINDERARMUT IN EINEM REICHEN LAND


Lothar Schuchmann
Der Begriff “Armut” ist in vielfacher Weise interpretierbar und nicht einfach identisch mit Einkommens-armut. In Ländern, in denen der Großteil der Bevölkerung arm ist, wird “Armut“ nicht so empfunden; auch als wir Deutsche in der Nachkriegszeit etwa bis 1948 fast alle am Rande oder auch unter dem Existenz-minimum lebten, bezeichnete sich niemand als arm, obwohl damals fast alle ständig Hunger hatten.

Armut als „Lebenslage“ wird als solche nur in einer überwiegend reichen („2/3“) Gesellschaft empfunden und zwar als Ausschluss oder Ausgrenzung vom Leben der wohlhabenden „Normalbevölkerung“. Arme in einer reichen Gesellschaft fühlen sich überflüssig, nicht wertgeschätzt und hilflos. Armut ist dabei kein Zustand, sondern ein dynamischer psychosozialer Prozess.

Ein besonders in Deutschland auffallendes Problem ist die bereits seit Mitte der 80ziger Jahre, besonders aber seit der Realisierung der Agenda 2010 ständig steigende Armut von Kindern und Jugendlichen bzw. deren Familien. Dazu beigetragen hat aber auch, daß der finanzielle/steuerliche Familienlastenausgleich zwar seit Jahrzehnten gefordert, bisher aber nie durchgesetzt werden konnte.

Die Zahl armer Kinder bzw. ihrer Familien stieg von etwa 100 000 Kindern und Jugendlichen im Jahre 1981 in Westdeutschland auf 2,6 Millionen im Jahre 2007 im wiedervereinigten Land. Unser reiches Bundesland Baden-Württemberg liegt mit 313 000 armen Kindern und Jugendlichen mit an der Spitze, 313 000 Kinder, das entspricht 17% aller Kindern und Jugendlichen in unserem Bundesland.

Betroffen von der Armut sind vor allem kinderreiche Familien, alleinerziehende Eltern - meist Mütter -und Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund.

Kinderarmut ist weitgehend vermeidbar wie die entsprechenden geringen Zahlen von Schweden, Finnland und Frankreich zeigen. Dagegen wird in unserem Land eher eine „Kinderverarmungspolitik“ betrieben. Dazu zählt neben dem erwähnten immer noch fehlenden Familienlastenausgleich die Tatsache, daß das Kindergeld trotz zunehmender Inflationsrate nicht bzw. nur unwesentlich erhöht wurde, daß die KITA-Zuschüsse des Landes seit 2002 eingefroren sind, daß es in KITAS und Ganztagsschulen oft kein kos-tenloses Mittagessen gibt, daß das Kindergeld bei Hartz IV-Empfängern mit dem „Eck-Regelsatz“ ver-rechnet wird und daß das Elterngeld nach dem Einkommen der Eltern entsprechend gestaffelt, die soziale Lage dabei nicht berücksichtigt wird.

Zur Armut trägt nicht unwesentlich bei, daß das sogenannte Existenzminimum statistischen Berech-nungen entnommen wird („Düsseldorfer Tabelle“) und nicht mehr dem Wert des aktuellen Warenkorbs entspricht, der noch am ehesten den Bedarf der Durchschnittsbevölkerung entspricht. Der aktuelle Eckregelsatz beträgt für Kinder bis zu einem Alter von 15 Jahren € 211 und von 15 bis 18 Jahre € 281. Dabei wird der Bereich Bildung mit keinem einzigen Cent berücksichtigt dies obwohl die Bedeutung von Bildung und Erziehung in aller Munde ist. Auch andere Bereiche sind ersichtlich unterfinanziert: Mittag- und Abendessen jeweils € 1,02 € und „Schreibwaren im Allgemeinen“ € 1,66 wöchentlich; letzteres reicht für den Erwerb eines Bleistifts und eines Radiergummis. Für den Kauf eines Fahrrades sollen monatlich € 0,40 zurückgelegt werden!!

Arme Eltern (armer Kinder) erleben häufig in ihrer Kindheit vernachlässigende Familienstrukturen, emo-tionale Deprivation, Bedingungen, die die Möglichkeit einer unauffälligen cognitiven Entwicklung stark vermindern.Folge davon sind psychosoziale und chronische Erkrankungen, dies zusammen mit dem oft erheblichen Stress ( Zeitdruck/Kontrolle) an ungesunden, manchmal auch gefährlichen Arbeitsplätzen. Dies führt zu frühen gesundheitlichen Schäden, zu häufigen Erkrankungen mit beruflichen Fehlzeiten, zu weiterer Verarmung und häufig zu Arbeitslosigkeit.

Enge Wohnungen in Hochhäusern/Plattenbauten der ärmeren Bevölkerunganteile liegen häufig an Haupt- oder Durchgangsstraßen mit erheblichem Verkehrslärm. Hohe Luftverschmutzung kommt als weiteres gesundheitliches Risiko dazu.


Weitere Beobachtungen zeigen, daß für die Angehörigen der ärmeren Bevölkerungsanteile wenig Möglichkeiten und Gelegenheit für Erholung und gemeinsame Unternehmungen bestehen. Passivität, Misserfolgsorientierung und Depression gehen dann oft mit Medienmissbrauch von Eltern und Kindern einher.

Die Lebenslagen der Kinder, die in diesen Strukturen aufwachsen, zeigen Zeichen von Vernachlässi-gung, die einen bleibend schädigenden Einfluss auf die frühkindliche Hirnentwicklung verur-sachen kann (mit synaptischen Verschaltungs und Vernetzungdefekten) mit der Folge von emotionalen Störungen, Verhaltensauffälligkeiten sowie einer verminderten Lernfähigkeit.

Diese Kinder wachsen häufig mit wenig liebevoller Zuwendung auf; es gibt kaum Tagestruktur und Be-aufsichtigung; sie erhalten zu wenig und/oder unregelmäßig oft ungeeignete Nahrung, es fehlt an Kör-perpflege und Kleidung; die Kinder werden nicht zu Ausdauer und Selbstbewußtsein ermutigt, zeigen dann weniger Lernfähigkeit und Konzentrationsvermögen, auch weniger Wissensdurst und eine geringe Frustrationstoleranz.

Als Folgen dieser Lebenslagen zeigt sich frühzeitig ein depressives Verhaltensmuster und blasses Hautkolorit; Armut macht unsere Kinder eben nicht nur dumm sondern auch physisch und psychisch krank. Dies zeigt sich unter anderem auch in einer deutlich höherem Säuglingssterblichkeit und Früh-geborenenrate. Die Zahl der Unfälle ist höher, auffällig ist oftr eine verlangsamte Sprachentwicklung und unzureichende Psychomotorik. Bekannt ist: Arme Kinder sind über-, nicht untergewichtig.

Von den armen Familien werden aber auch die Möglichkeiten der Vorsorge und der allgemeinen Gesund-heitsversorgung nicht oder weniger als von der Durchschnittsbevölkerung wahrgenommen. Das betrifft den Zahnstatus wie die Teilnahme an Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen. Dazu ist dringend zu fordern, den ÖGD wieder so personell und finanziell auszustatten, daß er seinen wichtigen Aufgaben auch nachkommen kann.

Bildung und Erziehung beginnt mit der Geburt oder auch schon vorgeburtlich. Früh beginnende soziale Prävention gegen Kinderarmut verringert die Notwendigkeit von späteren Interventionen. Intensive El-ternförderung und -bildung gilt als spezielles Programm gegen Vernachlässigung von Kindern, also als Kinderschutz.

Auf kommunaler Ebene sollen in unseren Großstädten mit ihren sozialen Brenpunkten diskriminierungs-freie Präventionskette aufgebaut werden; wichtig sind dabei Ganztageseinrichtungen mit kostenfreiem Frühstück und Mittagessen für Kinder und Jugendliche, an deren Aktivitäten sich auch Eltern beteiligen können und sollen im Sinne von Familienzentren bzw. von Familienetzwerken.Rund 180 € kostet die Grundausstattung für Erstklässler; Hartz IV erlaubt keine Zuschüsse mehr für arme Eltern wie früher. Daher sollen zukünftig kommunale Fonds gebildet werden, die beispielsweise die Erstausstattung von Grundschülern finanzieren.

Der seit Jahrzehnten überfällige Familienlastenausgleich sollte endlich auf Bundesebene durchgesetzt werden. Das Existenzminimum für Kinder und Jugendliche muss nach einem wirklich realistischen Waren-korb-Modell erreichnet werden und beträgt ca. € 400 - 500 monatlich. Sinnvoll ist eine eltern-unabhängige Grundsicherung für Kinder. Besondere Beachtung verdient die Versorgung von Familien mit gutem bezah-lbaren Wohnraum mit kindergerechtem Wohnumfeld.

Die Hartz IV-Gesetzgebung muss vollständig zurückgenommen werden.