Lothar Schuchmann, Kinderarzt, Sprecher des KV Freiburg und der LAG Gesundheit und Soziales, eröffnet um 10:15 Uhr die Tagung mit Begrüßung von ZuhörerInnen und ReferentInnen sowie einer Einführung in das Thema: "Für ein solidarisches Gesundheitswesen". Lothar Schuchmann wies auf vier Problem-Komplexe hin: 1. Arzt-Patienten-Verhältnis mit der Forderung nach entschiedenem Widerstand gegen die aktuelle Ökonomisie-rung, Industrialisierung und Entindividualisierung (Enthumanisierung) der Medizin d.h. einer Medizin ohne Be-rücksichtigung sozialer, psychischer und pharmakogenetischer Unterschiede der Patienten mit Vermeidung von Zuwendung, längeren Gesprächen und Beratungen. Dazu ein bezeichnendes Zitat von Eugen Münch, dem Auf-sichtsratvorsitzenden der Röhn AG: Münch deklarierte die Basis der "alten Medizin" und der damit verbundenen Vertrauensbasis zwischen Arzt und Patient für restlos überaltert und überholt. Die "neue Medizin" beinhalte kei-nerlei Vertrauens- und Beziehungsebene mehr; es handelt sich vielmehr um einen reinen Leistungsaustausch. Da-mit hat sich auch der ärztliche Eid des Hippokrates weitgehend erledigt. 2. Der neoliberale Wettbewerb um gute Risiken und die Bewertung des "Marktwerts" von Kranken und Krankheiten führt zur Ausgrenzung von Alten, Kin-dern, Armen und Behinderten - dies ist nicht akzeptabel.3. Der medizinische Bedarf an Arznei- und Heilmit-teln ( Positivliste bei Medikamenten u.a.) sollte von einer Kommission ( statt dem Bundesausschuss) erfahrener älterer Ärzte und Vertretern chronisch Kranker festgelegt werden nach wissenschaftlichen Kriterien und sorgfä-tiger Einschätzung des Bedarfs an Behandlung und Betreuung bei Annahme eigener Erkrankungen oder der von nahem Angehörigen. Unser Gesundheitssystem soll ausschließlich kranken Mitbürgern dienen - keinesfalls sind Wellness-Programme o.ä. von den GKV-Kassen zu finanzieren. 4. Die Finanzierung unseres Gesundheitssystems bedarf einer deutlich verbreiterten Finanz-Basis ( Solidarische Bürger versicherung).
1. Referat „Menschenwürde in der Altenpflege - die betriebwirtschaftliche Logik muss aufgebrochen werden" mit Brigitta Heinisch. Buchautorin „Satt & Sauber“. Wieviel dürfen uns alte Menschen kosten?
Beim Thema "Altenpflege" wird viel über einen "gelingenden Alltag", "in Würde sich wohlfühlen", "Beheima-tung" und "kuturelle Angebote" gesprochen und geschrieben; die aktuelle Alltagswirklichkeit sieht ganz anders aus. Frau Heinisch, eine Berliner Altenpflegerin schildert in einem erschütternden Beitrag die Zustände in Ber-liner Alten (pflege)heimen. Ihre gut begründete, öffentlich geäußerte Kritik an der Arbeitsweise ihrer Pflegeein-richtung (der Vivantes GmbH) hatte Mobbing, Kündigung und staatsanwaltliche Ermittlungen gegen sie zur Fol-ge. Nach ihren Erfahrungen tobt im Pflegesystem ein erbarmungsloser Verteilungskampf um Profit und Rendite. Dies führt zu schrittweisem Personal - und Leistungsabbau. Engagierte Pflege-MitarbeiterInnen, die "Verbesse-rungen" für ihre Pflegebedürftigen fordern, werden ausgegrenzt. Unruhige Pflegebedürftige werden oft mit Psy-chopharmaka ruhig gestellt bzw. mit Gurten festgebunden. Demenzkranke werden dämonisiert. Oft liegen sie wegen Personalmangel stundenlang in ihren voll gekoteten Inkontinenz-Materialien. Der Personalmangel führt zu hohem Krankenstand und ständigem Wechsel der MitarbeiterInnen und damit zu weiterer nicht verantwort-barer Überlastung der übrigen PflegerInnen. Heime werden als "Profit-Center" geführt - dazu das Stichwort: "Heuschrecke im Altenheim". Auch die sogenannten Reformen der Politik ( Wettbewerb!!) sehen in der Erhö-hung der Rendite ein Hauptziel und setzen Anreize zum Zocken an der Börse (Profitmasse "Alte Menschen"). Der MDK denkt eher in den Kategorien abhaken und Noten verteilen. Ähnlich wie bei den Verhältnissen im Gesundheitswesen zeigen sich auch im Pflegebereich erhebliche Unterschiede beim Umgang zwischen GKV- Pflegbe-dürftigen und den Privatversicherten. GKV heißt auf jeden Fall längere „Wartezeiten". Ein Evaluationsbericht des MDK wies 11/2004 auf den sehr ungünstigen Personalschlüssel sowie auf den hohen Anteil von Leasing-MitarbeiterInnen hin bei der Pflege hin, dies mit der Folge ständiger Überforderung und psychischer Überlastung der Pflege-Verantwortlichen. Frau Heinisch erläuterte die Verhältnisse im Rahmen ihrer Anzeige ge-gen ihren Arbeitgeber/Träger (Vivantes GmbH). Ergebnis der gerichtlichen Auseinandersetzung: Staatsanwalt-schaft und Gericht stehen eindeutig auf der Seite des Konzerns. Abschließend formulierte Frau Heinisch Ziele einer guten Pflege: Keine Privatisierung der Pflege-Einrichtungen - Rekommunalisierung, kostenfreie Pflege (Pflegevollversicherung) für alle Menschen, 30 Stunden-Woche für das Pflegepersonal, Einführung des politisches Streikrechts.
Diskussion: Ziel ist eine würdevolle und menschlichen Pflege und Versorgung. Auch für die Pflege muss zukünftig eine Vollversicherung durchgesetzt werden Angehörige von Pflegebedürftigen sollten bei erkannten Missständen mehr öffentliche Kritik üben/Öffentlichkeit herstellen. Regelmäßige sorgfältige Kontrolle der Pflegeheim ohne Anmeldung. MitarbeiterInnen der Pflegeeinrichtungen werden mit Lohndumping und Arbeit-sverdichtung unter Druck gesetzt, Pflege-Einrichtungen (Träger) zocken ab. Dänisches Modell (überwiegend am-bulante Pflege, weniger stationäre Pflegeinrichtungen) könnte Vorbild werden - unterschiedliche Beurteilungen in der Diskussion dazu. Pflege muss zukünftig wieder überwiegend von öffentlichen oder gemeinnützigen Trä-gern übernommen werden. Ambulante Teilpflege/ stationäre Pflegeheime. Festzustellen ist schließ-lich, dass kommunale Trägerschaft allein keineswegs gute Pflegequalität garantiert. Auch im öffentlichen/kommunalen Bereich können gravierende Pflegemängel beobachtet werden.
2. Referat Solidarische Bürgerversicherung statt Zweiklassenmedizin. Referent Frank Spieth, MdB, Erfurt.
Die bisherigen Gesundheitsreformen waren vorrangig Kostendämpfungsgesetze, die mit höheren Zuzahlungen und Eintrittsgebühren und mit Leistungsreduzierungen oder ausgrenzungen verbunden waren. In Arztpraxen und in Krankenhäusern findet zunehmend eine Rationierung von Leistungen statt. Privatversicherte werden besser behandelt als gesetzlich Krankenversicherte, dies und die zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitswesens führen zu einer Zwei-Klassen-Medizin. Die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung wird zunehmend auf den wirtschaftlichen Ertrag und nicht mehr an der gesundheitlichen Versorgung der Patienten ausgerichtet. Dies hat weit reichende Folgen.
Aktuelle Studien belegen, dass Menschen mit einem Monatseinkommen von 500 Euro eine um durchschnittlich 10 Jahre kürzere Lebenserwartung als Menschen mit einem Monatseinkommen von 5.000 Euro haben.
Das Gesundheitswesen muss an den Versorgungsbedarf der Bevölkerung ausgerichtet werden. Gleichzeitig muss die Finanzierung über eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung stattfinden. In diese müssen alle in Deutschland lebenden Menschen von allen Einkommensarten, ohne Beitragbemessungsgrenze, den gleichen prozentualen Beitrag zahlen.
Auf der Grundlage einer Versorgungsforschung, über regionale Gesundheitsziele sollen regionale Gesundheitskonferenzen, als Gesundheitsparlamente mit einem eigenen Budget, über Angebote und Strukturen zur gesundheitlichen Versorgung entscheiden.
Diskussion: Die Versorgungsforschung wird als unabdingbare Vorraussetzung für die Gesundheitsversorgung angesehen. Die Arzneimittelforschung ist vollkommen unzureichend, da die Pharma-Konzerne nur an profitablen Produkten interessiert sind. Produkte für so genannte Exotenkrankheiten werden wegen geringen wirtschaftlichen Nutzens nicht entwickelt.
Beispiel: Statt dem kostengünstigen, gut wirksamen, aber nicht zugelassenen Avastin (off label use) soll zur Behandlung einer Netzhautdegeneration nach den Intentionen der Herstellerfirma das 30 mal so teure, chemisch fast identische Lucentis verordnet werden: 50 €/Spritze wird 1500 € /Spritze. Pharma-Unternehmen sehen in der Erhöhung der Rendite eines ihrer Hauptziele: Grundlagenforschung darf nicht in den Händen der Pharmakonzerne bleiben. Informationen und Werbung zu verschreibungspflichtigen Medikamenten durch die Pharma-Firmen haben zu unterbleiben (es ist schon schlimm genug, dass sich Ärzte davon beeinflussen lassen).Es wird nach der Beurteilung alternativer Therapieformen gegenüber der Schulmedizin gefragt. Beide haben nebeneinander je nach Krankheitsart und -situation eine Berechtigung.
Anmerkungen (Lothar Schuchmann) : Grundsätze des ärztlichen Berufsbildes sind in der Beufsordnung fest-gelegt, so heißt es etwa in § 2: "Ärzte üben ihren Beruf nach ihrem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit aus; sie unterliegen keinen Weisungen". In der Realität ist die ärztliche Tätigkeit so über-reguliert, dass von einem freien Beruf nicht mehr die Rede sein kann - Politiker neoliberaler Parteien sehen dies allerdings anders. Ärzte stehen in einer wahren Gesetzes- und Regelungsflut von Anweisungen, Verordnungen, Richtlinien, Empfehlungen, Leitlinien, DRG's, DMP'S, QM, RLV's u.v.m. Viele dieser Vorschriften widerspre-chen sich; so sind machen Anforderungen des Haftungsrecht (strenger Sorgfaltsmaßstab) mit den Forderungen des Sozialrecht ( Wirtschaftlichkeit) völlig unvereinbar. Rigorose Wirtschaftlichkeitsgebote hindern auch enga-gierte Ärzte daran, ihre Patienten nach wissenschaftlichen Erkentnissen und Regeln der ärztlichen Kunst zu behandeln. Letztlich wird die Motivation vieler Ärzte auch durch massive, oft willkürliche Einschüchterung (Drohung existenzvernichtender Regresse) bei Überschreitung der Budget-Grenzen (Richtgrößen) im Arznei-mittel- und Heilmittelsektor durch die sogenannten Prüfungsausschüsse der KVen vermindert. Zu hinterfragen ist hier auch die demokratische Legitimation des sogenannten Bundesauschusses. Deutsche Ärzte sind aktuell stark verunsichert und nachhaltig demotiviert; dies führt zu einer weniger umsichtigen und engagierten Behandlung der Patienten. Dazu kommt, dass die meisten der zahllosen Regeln nur für die GKV-Patienten gelten, bei der Behandlung von Privatpatienten gibt es keine Budgets oder drohenden Prüfungsausschüsse; dies alles fördert natürlich die Zwei- oder Vierklassenmedizin wie andererseits die Vielzahl bedrohlicher Paragraphen auch zur reinen Defensivmedizin führt: So trifft der vorsichtige ( oder weniger mutige) Arzt Entscheidungen eher nach dem Buchstaben des Gesetzes als nach seinem Gewissen. Als Weiteres: Anmerkungen zur Frage der Honorie-rung: Die Modalitäten der Abrechnung sind inzwischen derartig kompliziert und unübersichtlich geworden, dass auch Spezialisten aktuell ratlos nach verschwundenen Milliarden suchen; ein Ergebniss des Chaos ist jedenfalls die drastische Senkung der Honorare vorallem in Baden-Württemberg und Bayern, die bereits jetzt zur Insolvenz mehrere größerer Allgemeinpraxen geführt hat. Ulla Schmidts Ziel ist es wohl vor allem, die "Sprechende Me-dizin" zu elimieren und eine industrielle Versorgung im Zwei-Minutentakt durchzusetzen.
Eine Bemerkung zum Qualitätsmanagment (QM) ( es geht hier nicht um notwendige und unbedingt richtige Organisationsleitlinien für Kliniken und Praxen). QM verursacht einen enormen Zeitaufwand (-verlust) für eine umfassende "positive", leider häufig sinnlose Doku-mentation ( für Datenfriedhöfe), die in keiner Weise dem Patientenwohl dient. Im Gegenteil: QM nimmt gerade sorgfältig arbeitenden Ärzten wichtige Zeit für die Be-treuung ihrer Patienten. Manches an den hochtrabend vorgegebenen Zielen und Planungen, insbesondere der irre Wortschwall erinnert eher an ....Satire. Papier ist geduldig. Auffällig ist: Es werden nur Erfolge berichtet, Mis-serfolge gibt es eben nicht; dabei könnte man gerade aus Fehlern viel lernen. Auf Qualitätsprobleme bei anderen wichtigen, aber schwierigeren Bereichen wie soziale Belastung, Armut und Krankheit, Vernachlässigung oder Suchtproblematik etc. wird garnicht erst eingegangen. Es ist zu beobachten, dass eher weniger sozial-kompe-tente bzw. engagierte KollegInnen QM mit Emsigkeit betreiben statt regelmäßig wissenschaftliche Literatur durchzusehen und sich intensiver - auch ohne Punkte-Erwerb - fortzubilden. Einen Vorteil von QM konnte ich allerdings in den Kli-niken entdecken: Überlastung, personelle Unterbesetzung, deutliche Hinweise auf Organisa-tionsversagen können jetzt protokolliert und hinterlegt werden; dies entlastet KollegInnen bei Fahrlässigkeitspro-zessen erheblich. Anmerkung zu den KVen: Die KVen müssen an Haupt- und Gliedern reformiert und demokra-tisiert werden; alle ärztlichen Berufsgruppen ( Berufsverbände) müssen in gleichwertiger Weise vertreten sein und über ihre Berufsangelegenheiten mitbestimmen dürfen - was jetzt gerade nicht der Fall ist.
3. Referat „Die Abwärtsspirale jetzt stoppen! Unsere Krankenhäuser in Finanznot. Referentin: Marianne Linke, MdL, Schwerin
Kommunale und Landes-Kliniken (Univ. Kliniken) sind mit die größten Arbeitgeber in Mecklenburg-Vorpom-mern. Forderung: Der Sozialstaat mit einem öffentlich rechtlichen Gesundheitssystem muss erhalten werden. Lissabon-Vertrag und EU Verordnungen verwässern die Sozialstaatsstrukturen. EU-Wettbewerbsrecht stärkt die Wirtschaft, schwächt den Sozialsstaat. Monistische Finanzierung führt zu Investitions- und Personalabbau. Ein-zelverträge der Hausärzte mit den GKV-Kassen (§ 73 b SGB V) führen zu Streit und Grabenkämpfen zwischen Haus- und Fachärzten und schränken die berufliche Eigenständigkeit der Ärzte und die Wahrung der Patienten-Interessen stark ein. Diese Vereinbarungen enthalten zwar eine bessere Vergütung auf Kosten der "übrigen"Ärz-te; gegen das Patienten-Interesse gerichtet ist aber die aktive Verordnungssteuerung bei der Arzneimittel- und Heilmitteln. Es gibt 30% defizitäre Krankenhäuser in Mecklenburg-Vorpommern - Verbesserung durch Zusam-menarbeit und Spezialisierung. Bedarfsplanung? Verweildauer der Patienten im KH hat sich mit der Ein-führung der DRGs drastisch verkürzt. Die aktuelle Preisdrückerei der Krankenhaus-Konzerne ist vollkommen inakzepta-bel. Die Umsetzung der letzten Gesundheitsreform ( GKV-WSG/Gesundheitsfonds) verschärft zusätzlich die für Ärzte und Patienten die schon bisher aktuell ungünstige Situation. DIE LINKE fordert die Beibehaltung des du-alen Finanzierungssystems, Investitionen sind Ländersache und sollen - wenigstens zukünftig - in erforderlichem Maße aus Steuergeldern erfolgen. Der Ansatz linker Gesundheitspolitik ist das Solidarprinzip: Alle zahlen ein und werden nach dem jeweiligen Bedarf behandelt. Die Forderung der Partei DIE LINKE lautet daher: Solidari-sches Gesundheitswesen/solidarische Bürgerversicherung, paritätische Finanzierung, öffentlich-rechtliches Sys-tem. Krankenkasssen- und KVen-Strukturen müssen alerdings dringend reformiert/demokratisiert werden, dass Experiment Gesundheitsfonds ist sofort zu beenden.
Anmerkungen (Lothar Schuchmann): Einrichtungen des Gesundheitswesens dienen der Daseinsvorsorge; weitere Privatisierung von Krankenhäusern und MVZs, insbesondere durch die großen Krankenhaus-Konzerne (Helios, Rhön, Sana u.a.) muss verhindert werden; statt dessen Rekommuna-lisierung. Die strikte Anwendung von DRGs in unseren Kliniken und Krankenhäusern muss beendet werden zugunsten eines zu entwickelnden Mischsysterms.