Gemeinderat 18.10.22. Rede von Günter Rausch zum Punkt "Housing first"


Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,

„Mensch kann nicht nicht-wohnen“.

Wohnen ist für uns alle von existenzieller Bedeutung. Ein Dach über dem Kopf ist für uns gerade zu selbstverständlich. In der eigenen Wohnung die Türe hinter sich zu machen zu können, gibt uns ein Gefühl der Sicherheit, der Geborgenheit und zu Hause zu sein. Hier können wir uns frei entfalten, uns einrichten, Freund_innen empfangen oder ganz einfach chillen. Diese bergenden vier Wände sind für ein gelingendes Leben unverzichtbar. Schon deshalb haben von altersher die Menschen alles dafür getan, wenigstens dieses Dach über dem Kopf zu sichern.

Wohnen ist ein Menschenrecht!

„Housing first!“ ist das Lebensprinzip schlechthin. Obdachlos bzw. wohnungslos zu sein, ist dagegen eines der schlimmsten Widerfahrnisse menschlichen Seins. Wohnungslos ist ein fieses Los!

Leider ist in einem der reichsten Länder dieser Welt dieses Menschenrecht nicht für alle gewährleistet. Dass dies auch in unserem schönen Freiburg so ist, zeigt jeder Spaziergang durch unsere Stadt. Wer sich die Mühe macht, mit Betroffenen zu reden und Fachleuten zuzuhören, wird erschüttert sein. Hinter jedem Wohnungslosen steckt ein furchtbares Schicksal. Überall treffen wir dabei auf verzweifelte und oftmals schon resignierte Menschen.




Was fehlt ihnen?

In erster Linie eine eigene Wohnung! Sie brauchen eine eigene Wohnung, mit eigenem Mietvertrag in einer ganz normalen Wohngegend. Und wenn sie darüber hinaus sozialarbeiterische oder gar therapeutische Hilfe wünschen sollten, müssen wir ihnen das natürlich lebensweltorientiert und niedrigschwellig anbieten.
Das entspricht dem international anerkannten und erfolgreichen Fachkonzept „Housing first“, das in vielen Ländern Europas und inzwischen auch in einigen Großstädten Deutschlands erfolgreich praktiziert wird. Insbesondere aus europäischen Nachbarländern wird berichtet, dass 80 bis 90% dieser früher obdachlosen Menschen noch nach 2 Jahren zur Zufriedenheit aller in ihren Mietwohnungen lebten.
Leider wird hierüber in dieser Gemeinderatsdrucksache nur sehr unbefriedigend informiert. Ebenso wenig wie über viele andere wichtige Fakten und Hintergründe.
Vor allem aber missfällt uns, dass die Perspektive der Betroffenen völlig fehlt und der aktuelle Fachdiskurs in der Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit sich hier nicht widerspiegelt.
Uns fehlt auch jegliches Verständnis dafür, dass zwischen „mietfähigen“ und nicht mietfähigen Menschen“ wird. Ab wann ist ein Mensch „mietfähig“ und wie erlangt er ein solches Qualifikationsmerkmal?
Wenn Wohnen ein Menschenrecht ist, dann muss man sich das nicht erst irgendwie verdienen oder nachweisen können, dass man dafür geeignet ist. Das steht uns allen qua Geburt zu!
Leider hat die vorliegende Drucksache weder diese grundlegenden Fragen aufgegriffen, noch den eigentlichen Kernauftrag, nämlich die Entwicklung einer Strategie bis 2030 erfüllt. Stattdessen wird
ausgesagt, der derzeitige Planungshorizont liege bei ca. 24 Monate und sei in seiner Planbarkeit begrenzt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo kämen wir hin, wenn dieser beschränkte Planungshorizont in unserer Stadt Schule machen würde?
Es fehlen vor allem auch wichtige Parameter für eine sach- und fachgerechte Debatte in diesem Gremium: zum Beispiel

Wie viele Menschen sind in Freiburg aktuell von Wohnungslosigkeit bedroht und betroffen?

Wichtige Zielgruppen werden gar nicht genannt, z.B. Heranwachsende oder Menschen ohne Papiere.
Auch wird die Vielfalt der Geschlechter mit einhergehenden spezifischen Bedürfnissen und Erwartungen völlig ignoriert.

Es ist unfassbar, dass in unserem Heimen für Wohnungslose auch Familien mit  Kindern leben. Das darf  nicht länger so sein. Familien, so sagt das Grundgesetz,  stehen unter dem besonderen Schutz des  Staates. Und das Kindeswohl hat stets  oberste Priorität. Wieso gibt es hierfür kein Sofortprogramm?
Was ist aus dem Beschluss der Dezernentenkonferenz von 2018 geworden, dass  bis 2023 mindestens  200 Kleinstwohnungen für die Wohnversorgung  wohnungsloser Menschen zu bauen sind?

Was heißt das für unsere Fraktion ?

Eigentlich müssten wir für eine Absetzung plädieren. Wir haben stattdessen entschieden, folgende Anträge zu stellen:

Die Verwaltung wird beauftragt, die Drucksache zu überarbeiten und erneut in den Fachausschüssen zu beraten.
Zeitnah sollte eine Fachtagung zum Thema „Housing First und andere erfolgversprechende Strategien zur Überwindung von Wohnungslosigkeit“ durchgeführt werden.
Durch eine neu zu bildende Fachkommission aus Vertreter:innen der öffentlichen und nichtöffentlichen Trägern, Fachleuten der Wohnungslosenhilfe sowie ehemaliger und aktuell von Wohnungslosigkeit Betroffener sind erfolgversprechende Strategien zur Überwindung von Wohnungslosigkeit zu entwickeln.

Die Freiburger Stadtbau GmbH wird beauftragt, jährlich mindestens 10 ausreichend große Wohnungen für von Wohnungslosigkeit betroffenen oder bedrohten Familien zur Verfügung zu stellen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Wohnen ist ein Menschenrecht. Bis alle Menschen in Freiburg eine menschenwürdige und bezahlbare Wohnung besitzen, gibt es viel zu tun. 

Packen wir es an!